Welche Bildung brauchen unsere Kinder?
„Die Leute haben die Einstellung, dass man nach drei Sätzen wissen muss worum es geht, ansonsten lesen sie nicht weiter“, sagt Prof. Dr. mult. Wassilios Fthenakis (siehe Infobox). Um es vorweg zu nehmen: In drei Sätzen lässt sich sein Vortrag im Haus Sonnenwinkel gewiss nicht zusammenfassen. Zu interessant, zu zukunftsweisend waren seine Ausführungen zum Thema „Die Fachkraft und der Kindergarten der Zukunft: Welche Bildung brauchen unsere Kinder?“
Es ist nicht das erste Mal, dass der 85-Jährige auf dem Essenerberg zu Gast ist. Bereits im Februar hatte er hier einen Vortrag gehalten, im Rahmen des vom Kinderhaus Wittlager Land e.V. organisierten EU-Projektes „Kita digital“. Auch Gäste aus Spanien (Lleida) und Italien (Rovereto) waren damals anwesend. Nun waren es Studierende und Leitungen aus verschiedenen Fachbereichen des Verbunds Sozialer Dienste (VSD). „Es sind Themen, die altersübergreifend relevant sind. Überlegt, was für eure Arbeit spannend und wichtig ist. Ihr seid gute Multiplikatoren für seine Ideen“, stimmte Geschäftsführer Tim Ellmer die Zuhörerinnen und Zuhörer ein.
Für Fthenakis ist entscheidend, dass sich die Fachkräfte nicht nur als Begleiter und Unterstützer der Kinder verstehen, sondern dass sie gemeinsam mit dem Kind Bildung gestalten. Deshalb sei es wichtig, „dass wir Fachkräfte ausbilden, die mit diesem veränderten Verständnis ihre Rolle ausüben“. Wenn eine Fachkraft lerne, die richtigen Fragen zu stellen, könne sie die Bildungsqualität stärken. „Denn Bildung hat die Aufgabe, die Kinder so vorzubereiten, dass sie ihre eigene Welt konstruieren“, sagte Fthenakis und ergänzte: „Wir brauchen keine Kinder, die alles können. Sondern wir brauchen Kinder, die alles entdecken wollen.“
Bildung sei immer eine Zukunftsinvestition: „Wir müssen sie heute auf die Welt in 20 Jahren vorbereiten“, forderte der Professor. So wie sich die Welt verändert, verändern sich auch die Anforderungen an die Menschen. Darauf müsse sich die Ausbildung einstellen. Fthenakis wünscht sich deshalb, dass die Erzieher diese Entwicklung mitgehen und aktiv mitgestalten. Dazu gehöre auch die Integration neuer Technologien in das Bildungssystem und in den Bildungsplan. „Nicht menschliche Dinge gestalten Bildung mit“, betonte er. „Wir haben den Schlüssel in der Hand, wie wir Bildung verändern können.“
Er selber hat fünf Ebenen definiert, die eine Transformation des Bildungssystems darstellen. Die traditionelle Schulbildung mit standardisierten Tests sei suboptimal.
1. Die theoretische Transformation: die sozial-konstruktivistische Wende. Aus sozial-konstruktivistischer Sicht ist das Kind, von Anfang an, in soziale Beziehungen eingebettet. Es gestaltet seine Entwicklung aktiv mit, aber nicht allein. Das Beziehungsnetz gestaltet sich im reellen (analogen) wie im virtuellen Raum. Am Prozess der Ko-Konstruktion beteiligt sich das Kind aktiv, aber in Kooperation mit anderen Beteiligten wie Eltern, Fachkräften, Kindern und weiteren Erwachsenen.
2. Die strukturelle Transformation: Die Konstruktion von unten nach oben und damit einhergehend eine Konsistenz im Bildungsverlauf von der Kita bis zur Universität.
3. Die methodisch-didaktische Transformation vom individuellen zum kooperativen Lernen. Fthenakis ist überzeugt: „Wir müssen unser Verständnis von Lernen verändern. Lernen findet in Interaktion mit anderen, im Dialog, in Form von Kooperation statt. Es ist kein primär individueller Prozess. Wir müssen Bildung als sozialen Prozess im Miteinander sehen.“
4. Die Raumtransformation: Räume müssen neu gestaltet und ausgestattet werden, um ein optimales Lernen zu ermöglichen. Ein Monitor sei „das Fenster zur Welt“ und eröffne viele Bildungsmöglichkeiten.
5. Die digitale Transformation: Der Einfluss neuer Technologien muss zugelassen und berücksichtigt werden. Er plädiert zum Beispiel für ein virtuelles Atelier in Kindertagesstätten, einen Raum, in dem Kinder neue Technologien entdecken.
Weltweit werde eine Debatte geführt, welche Kompetenzen Kinder im 21. Jahrhundert mitbringen sollten. Im Idealfall werden es:
– kreative, fantasievolle, künstlerische
– kommunikative und medien-kompetente
– lernende, forschende und entwicklungsfreudige
– starke
– wertorientiert handelnde und mitwirkende
Kinder.
Ein Beitrag dazu sei es, Jungen die Chance zu geben, ihre Emotionen kennenzulernen, zu kontrollieren und zu steuern. Fthenakis erklärt: Mädchen wollen ab einem Alter von zwei Jahren Einfluss auf die Jungen nehmen. Die Jungen lassen sich das in der Regel nicht gefallen. „Deshalb spielen sie so selten miteinander und bleiben unter sich. Da die Mädchen im Spiel miteinander Emotionen austauschen und unterschiedliche Rollen übernehmen, sind sie den Jungen im Teenageralter in der Sprachentwicklung, aber auch emotional überlegen.“ Ein Junge müsse in der Beziehung dann erst einmal lernen, Einflussnahme zuzulassen.
Im Anschluss hatten die Fachkräfte und die Studierenden noch die Gelegenheit, Fragen zu stellen oder ihre Sichtweise zu schildern. Alle haben aufmerksam zugehört – auch wenn Fthenakis seine Sichtweise nicht in drei Sätzen zusammenfassen konnte.
Zur Person
Professor Fthenakis war ab 1975 Direktor des Staatsinstituts für Frühpädagogik in München, das er mit aufbaute und danach 30 Jahre als Direktor leitete. Seit 2006 ist Wassilios Fthenakis Präsident des Didacta Verbands – Verband der Bildungswirtschaft e. V. und zwischen 2012 und 2016 war er Präsident der WorldDidac Association. Er gilt als einer der renommiertesten internationalen Gelehrten auf dem Gebiet der Kindheits- und Familienforschung. Als Vorsitzender der Kommission ‚Qualität für Kinder‘ war er maßgeblich an der Weiterentwicklung der Kita-Pädagogik in München beteiligt. Auch die Grundlage der pädagogischen Arbeit in den bayerischen Kindertagesstätten – der bayerische Bildungs- und Erziehungsplan – trägt entscheidend seine Handschrift. Fthenakis ist Träger des Bundesverdienstkreuzes 1. Klasse und des Bayerischen Verdienstordens sowie Inhaber der Georg-Kerschensteiner-Medaille der Landeshauptstadt München.
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